NEUNZEHN

Als ich am nächsten Tag auf den Parkplatz fahre, ist Damen nicht da. Während ich aussteige, mir meinen Rucksack über die Schulter hänge und mich auf den Weg zum Unterricht mache, halte ich mir im Geiste einen aufmunternden Vortrag und mache mich auf das Schlimmste gefasst.

Doch sobald ich das Klassenzimmer erreiche, kann ich mich nicht von der Stelle rühren. Stumm starre ich die grün gestrichene Tür an, unfähig, sie zu öffnen.

Da sich meine hellseherischen Fähigkeiten in Luft auflösen, sobald es um Damen geht, ist das Einzige, was ich sehen kann, der Albtraum, den ich mir im Kopf zurechtbastele. Der, in dem Damen auf Stacias Tischkante hockt, lacht und flirtet und überall an ihr Rosenknospen hervorholt, während ich vorbeischleiche, auf meinen Platz zustrebe und das warme, süße Schmeicheln seines Blicks glatt über mich hinweghuscht und er mir den Rücken zudreht, damit er sich auf sie konzentrieren kann.

Und ich kann das einfach nicht, ich kann es allen Ernstes nicht ertragen. Denn obwohl Stada grausam, gemein, grässlich und sadistisch ist, ist sie zufällig auf durchaus gradlinige Weise grausam, gemein, grässlich und sadistisch. Sie birgt keine Geheimnisse, verhüllt keine Mysterien; ihre Unfreundlichkeit ist eindeutig, unverbrämt zur Schau gestellt.

Während ich das genaue Gegenteil bin: paranoid, verschlossen, versteckt hinter einer Sonnenbrille und einem Kapuzensweatshirt, und mit einer so schweren Bürde geschlagen, dass nichts an mir einfach ist.

Wieder strecke ich die Hand nach dem Türknauf aus und rufe mich innerlich zur Ordnung: Das ist doch lächerlich. Was willst du denn machen - die Schule schmeißen? Du musst dich noch anderthalb Jahre damit rumschlagen, also reiß dich zusammen, und geh da rein.

Doch meine Hände beginnen zu zittern und wollen mir nicht gehorchen, und gerade als ich die Flucht ergreifen will, kommt ein Schüler von hinten, räuspert sich und fragt: »Ah - machst du die Tür jetzt auf oder nicht?« Und beendet die Frage im Kopf mit du durch geknallter Freak.

Also hole ich tief Luft, öffne die Tür und schlüpfe geduckt hinein. Und fühle mich mieser, als ich es mir jemals hätte vorstellen können, als ich sehe, dass Damen gar nicht da ist.

 

Sobald ich den Lunchbereich betrete, halte ich Ausschau nach Damen, aber da ich ihn nirgends entdecke, gehe ich zu meinem üblichen Platz, wo ich zur gleichen Zeit ankomme wie Haven.

»Sechster Tag, und kein Wort von Evangeline«, verkündet sie, lässt die Schachtel mit ihrem Törtchen vor sich auf den Tisch fallen und setzt sich mir gegenüber.

»Hast du bei den anonymen Gruppen rumgefragt?« Miles rutscht neben mir auf die Bank und dreht die Verschlusskappe seines Vitaminwassers auf.

Haven verdreht die Augen. »Die sind doch anonym, Miles.«

Miles rollt seinerseits die Augen. »Ich habe ihre Betreuerin gemeint.«

»Die nennt man Sponsoren. Und, ja, die ist überhaupt keine Hilfe, hat nichts von ihr gehört. Allerdings findet Drina, dass ich übertreibe, sie sagt, ich mache viel zu viel Tamtam deswegen.«

»Ist die immer noch hier?« Miles sieht sie unverwandt an.

Mein Blick huscht zwischen den beiden hin und her, die Schärfe in ihren Stimmen hat mich aufmerken lassen, und ich warte auf mehr. Da fast alles, was mit Damen und Drina zu tun hat, hellseherisch tabu ist, bin ich ebenso neugierig auf die Antwort wie Miles.

»Ah, ja, Miles, sie wohnt jetzt hier. Wieso? Ist das ein Problem?« Ihre Augen werden schmal.

Miles zuckt mit den Schultern und trinkt einen Schluck. »Nein, das ist kein Problem.« Allerdings sagen seine Gedanken etwas anderes, und seine gelbe Aura wird dunkel und undurchsichtig, während er sich mit der Entscheidung abmüht, ob er sagen soll, was er will, oder ob er ganz den Mund halten soll. »Es ist nur ...«, fängt er an.

»Nur was?« Mit zusammengekniffenen Augen und schmalen Lippen sieht sie ihn an.

»Naja ...«

Ich starre ihn an und denke: Los, Miles, sag es! Drina ist arrogant und ätzend, schlechter Einfluss, Arger in seiner reinsten Form! Du bist nicht der Einzige, der das sieht, ich sehe es auch, also sag es schon - sie ist das Letzte!

Er zögert, die Worte nehmen auf seiner Zunge Gestalt an, während ich den Atem einsauge und darauf warte, dass sie losgelassen werden. Dann atmet er geräuschvoll aus, schüttelt den Kopf und brummt: »Ach, nichts.«

Ich werfe Haven einen raschen Blick zu, sehe ihr wütendes Gesicht, wie ihre Aura aufflammt und an den Rändem überall Funken wirft und lodert und einen Ausbruch größeren Ausmaßes ankündigt, und zwar in drei... zwei... eins...

»Entschuldige, Miles, aber das kaufe ich dir nicht ab. Wenn du also was zu sagen hast, dann tu's gefälligst.« Wütend funkelt sie ihn an, und ihr Törtchen ist vergessen, während sie mit den Fingern auf den Fiberglastisch trommelt. Und als keine Antwort folgt, macht sie weiter. »Wie du willst, Miles. Du auch, Ever. Nur weil du nichts sagst, heißt das noch lange nicht, dass du weniger schuldig bist.«

Miles schaut mich an, die Augen weit aufgerissen, die Brauen hochgezogen, und ich weiß, dass ich etwas sagen, etwas tun, eine Show abziehen und fragen sollte, welchen Vergehens ich mich genau schuldig gemacht hätte. Aber die Wahrheit ist, ich weiß es bereits. Ich bin des Vergehens schuldig, Drina nicht leiden zu können. Ihr nicht zu trauen. Etwas Verdächtiges, sogar Unheilvolles zu erahnen. Und nicht annähernd genug zu unternehmen, um mir diesen Argwohn nicht anmerken zu lassen.

Haven schüttelt den Kopf; sie ist so wütend, dass sie die Worte förmlich hervorspeit. »Ihr kennt sie überhaupt nicht! Und ihr habt kein Recht, über sie zu urteilen! Nur zu eurer Information, ich mag Drina zufällig gern. Und in der kurzen Zeit, die ich sie kenne, war sie mir eine bessere Freundin als ihr beide!«

»Das ist nicht wahr!«, brüllt Miles mit blitzenden Augen. »Das ist so was von totaler Blöd -«

»Sony, Miles, aber es ist wohl war. Ihr beide ertragt mich, ihr macht mit, aber ihr versteht mich nicht wirklich, so wie sie es tut. Drina und ich mögen dieselben Dinge, wir haben dieselben Interessen. Sie will nicht heimlich, dass ich mich ändere, so wie ihr. Sie mag mich so, wie ich bin.«

»Ach, und deshalb hast du dein Aussehen komplett verändert, weil sie dich so mag, wie du wirklich bist?«

Haven schließt die Augen und atmet langsam durch, dann sieht sie Miles an und steht auf. Während sie ihre Sachen zusammensucht, sagt sie: »Lass mich in Ruhe, Miles. Lasst mich beide in Ruhe.«

»Und jetzt, Ladys und Gentlemen, folgt der große dramatische Abgang!« Miles hat eine finstere Miene aufgesetzt. »Ich meine, soll das ein Witz sein? Ich habe doch nur gefragt, ob sie noch hier ist! Das ist alles! Und du machst eine Riesensache daraus. Herrgott noch mal, jetzt setz dich hin, krieg dich wieder ein, und entspann dich, ja?«

Sie schüttelt den Kopf und umklammert die Tischkante. Das kleine, kunstvolle Tattoo an ihrem Handgelenk ist inzwischen fertig, wenn auch noch rot und entzündet.

»Wie nennt man das da?«, frage ich und betrachte das Bild der Schlange, die ihren eigenen Schwanz verschlingt; ich weiß, dass es einen Namen dafür gibt, dass es irgendeine mythische Figur ist, aber ich habe vergessen, welche.

»Ouroboros.« Und als sie mit dem Finger über das Tattoo reibt, könnte ich schwören, dass die Zunge der Schlange zuckt und sich bewegt.

»Was bedeutet es?«

»Das ist ein altes, alchemistisches Symbol für das ewige Leben, für Schöpfung, die aus der Zerstörung entsteht, Leben, das aus dem Tod hervorgeht, so was in der Art«, sagt Miles.

Haven und ich sehen ihn an, doch er zuckt lediglich die Achseln. »Was ist denn? Ich lese eben eine Menge.«

Dann schaue ich Haven an und bemerke: »Sieht aus, als hätte sich das entzündet. Vielleicht solltest du mal jemanden draufschauen lassen.«

Sobald die Worte heraus sind, weiß ich, dass es das Falsche war, und ich sehe zu, wie sie mit einem Ruck ihren Ärmel herunterzieht, während ihre Aura lodert und Funken schlägt. »Mein Tattoo ist völlig in Ordnung. Mit mir ist auch alles in Ordnung. Und entschuldigt, dass ich das sage, aber ich kann nicht umhin, zu bemerken, dass keiner von euch beiden sich übermäßig wegen Damen aufregt, der übrigens überhaupt nicht mehr zur Schule kommt. Ich meine, was geht denn da ab?«

Miles schaut auf sein Handy, und ich zucke nur mit den Schultern. Es ist ja nicht so, als hätte sie nicht Recht. Haven schnappt sich ihre Kuchenschachtel und stürmt davon.

»Kannst du mir sagen, was hier gerade los war?«, fragt Miles und sieht zu, wie sie sich eiligst im Slalom durch das Labyrinth aus Tischen windet.

Doch ich zucke nur die Achseln; ich kann das Bild von der Schlange auf ihrem Handgelenk nicht loswerden, wie sie den Kopf gedreht und mich mit ihren starren Augen direkt angesehen hat.

 

Sobald ich in unsere Auffahrt einbiege, sehe ich Damen lächelnd an seinem Auto lehnen.

»Wie war's in der Schule?«, erkundigt er sich und kommt zu mir, um mir die Wagentür zu öffnen.

Achselzuckend greife ich nach meinen Büchern.

»Ah, du bist immer noch sauer«, meint er und folgt mir zur Haustür. Und obwohl er mich nicht berührt, kann ich die Wärme fühlen, die von ihm ausstrahlt.

»Ich bin nicht sauer«, murmele ich, öffne die Tür und schmeiße meinen Rucksack auf den Boden.

»Na, da bin ich aber erleichtert. Ich habe nämlich eine Reservierung für zwei Personen, und wenn du nicht sauer bist, dann gehe ich davon aus, dass du mitkommst.«

Ich sehe ihn an, meine Augen streifen über seine schwarzen Jeans, die Stiefel und den weichen schwarzen Pullover, der nur aus Kaschmir sein kann, und ich frage mich, was er wohl nun schon wieder vorhat.

Er nimmt mir die Sonnenbrille und den Kopfhörer ab und legt alles auf den Tisch in der Eingangshalle. »Glaub mir, all diese Abwehrmaßnahmen brauchst du wirklich nicht«, sagt er, schlägt meine Kapuze zurück, hakt sich bei mir ein und führt mich zur Haustür hinaus und zu seinem Wagen.

»Wo fahren wir hin?«, frage ich, während ich auf dem Beifahrersitz Platz nehme, fügsam, willenlos, stets so eifrig bereit, allem zuzustimmen, was er sagt. »Ich meine, was ist mit meinen Hausaufgaben? Ich habe jede Menge nachzuholen!«

Doch er schüttelt nur den Kopf und steigt neben mir ein. »Ganz ruhig, das kannst du später machen, ich versprech's.«

»Wieviel später?« Unverwandt sehe ich ihn an und frage mich, ob ich wohl je genug von seiner verblüffenden, düsteren Schönheit bekommen werde, von der Wärme seines Blicks und seiner Fähigkeit, mich zu so ziemlich allem zu überreden.

Er lächelt und lässt den Motor an, ohne auch nur den Zündschlüssel zu drehen. »Vor Mitternacht, versprochen. Und jetzt schnall dich an, wir machen eine kleine Spritztour.«

 

Damen fährt schnell. Sehr schnell. So schnell, dass es, als er auf den Parkplatz fährt und den Wagen einem Angestellten übergibt, den Anschein hat, es seien nur ein paar Minuten vergangen.

»Wo sind wir?«, frage ich und betrachte das grüne Gebäude und das Schild mit der Aufschrift EINGANG OST. »Eingang Ost zu was?«

»Na, das da sollte das wohl erklären.« Er lacht und zieht mich an sich, als vier glänzende Vollblüter mit ihren Pflegern vorbeigetrottet kommen, gefolgt von einem Jockey in rosa-grüner Jacke, dünnen weißen Hosen und schlammigen Stiefeln.

»Eine Rennbahn?« Ich starre ihn mit offenem Mund an. Genau wie Disneyland ist das so ungefähr das Letzte, was ich erwartet hätte.

»Und nicht nur irgendeine Rennbahn, sondern Santa Anita«, nickt er. »Eine von den schöneren. Jetzt komm, wir haben um Viertel nach drei eine Reservierung im Front Runner.«

»Im was?«, frage ich und rühre mich nicht von der Stelle.

»Reg dich ab, das ist nur ein Restaurant.« Er lacht. »Jetzt komm schon, ich möchte den Wettschluss nicht verpassen.«

»Ah, ist das nicht illegal?«, frage ich und weiß genau, dass ich mich anhöre wie die allerletzte Spießerin, aber trotzdem, das alles ist so ... gesetzwidrig und leichtfertig und ... willkürlich.

»Essen ist illegal?« Er lächelt, doch ich merke, dass ihm allmählich die Geduld ausgeht.

Ich schüttele den Kopf. »Wetten, Glücksspiel und so, du weißt schon.«

Doch er lacht nur und schüttelt seinerseits den Kopf. »Das sind Pferderennen, Ever, keine Hahnenkämpfe. Jetzt komm.« Er drückt meine Hand und führt mich zu den Fahrstühlen.

»Aber muss man dafür nicht einundzwanzig sein?«

»Achtzehn«, brummt er, tritt in die Kabine und drückt den Knopf für den fünften Stock.

»Genau. Ich bin sechzehneinhalb.«

Wieder schüttelt er den Kopf und beugt sich vor, um mich zu küssen. »Regeln sollten immer ausgereizt, wenn nicht sogar gebrochen werden. Anders kann man keinen Spaß haben. Und jetzt komm«, sagt er und führt mich in einen großen, in verschiedenen Grüntönen gehaltenen Raum. Vor dem Empfangspult bleibt er stehen und wird vom Empfangschef begrüßt wie ein lange verschollener Freund.

»Ah, Mr. Auguste, wie schön, Sie zu sehen. Ihr Tisch ist bereit, bitte folgen Sie mir.«

Damen nickt, nimmt meine Hand und geleitet mich durch einen Saal voller Paare, Rentner, einzelner Männer, mehrköpfiger Frauengruppen, einem Vater mit seinem kleinen Sohn - nicht ein leerer Stuhl weit und breit. Und macht schließlich an einem Tisch direkt gegenüber der Ziellinie Halt, mit einer wunderschönen Aussicht auf die Rennbahn und die grünen Hügel dahinter.

»Tony kommt sofort, um Ihre Bestellung aufzunehmen. Soll ich Ihnen Champagner bringen?«

Damen wirft mir einen raschen Blick zu, dann schüttelt er den Kopf. Er wird ein wenig rot, als er antwortet: »Heute nicht.«

»Sehr wohl, Wettschluss ist in fünf Minuten.«

»Champagner?«, flüstere ich und ziehe die Brauen empor, doch er zuckt nur die Achseln und entfaltet das Rennprogramm.

»Was hältst du von Spanish Fly?« Er sieht mich an und lächelt, als er hinzufügt: »Ich meine das Pferd, nicht das Aphrodisiakum.«

Aber ich bin viel zu sehr damit beschäftigt, mich umzusehen, um ihm zu antworten; ich bemühe mich mit aller Kraft, das alles in mich aufzunehmen. Denn dieser Saal ist nicht nur riesengroß, er ist außerdem proppenvoll - mitten in der Woche - sogar mitten am Tag. All diese Leute schwänzen und wetten. Es ist wie eine ganz andere Welt, von der ich gar nicht gewusst habe, dass sie existiert. Und unwillkürlich frage ich mich, ob er hier seine ganze freie Zeit verbringt.

»Also, was ist? Möchtest du wetten?« Er wirft mir einen kurzen Blick zu, ehe er sich mit seinem Stift ein paar Notizen macht.

Ich schüttele den Kopf. »Ich wüsste überhaupt nicht, wo ich anfangen soll.«

»Na ja, ich könnte dir das alles runterbeten, Quoten, Prozente, Statistiken und Abstammungen. Aber da wir nicht viel Zeit haben, warum schaust du nicht mal hier rein und sagst mir, was Anfühlst, von welchen Namen du angezogen wirst. Bei mir hat das immer funktioniert.« Er lächelt.

Dann wirft er mir das Programm zu, und ich überfliege es. Zu meiner Überraschung stoße ich auf drei Namen, die mir eindeutig ins Auge fallen, in einer »Eins-zwei-drei«-Reihenfolge. »Wie wär's mit Spanish Fly als Sieger, Acapulco Lucy auf Platz zwei und Son of Buddha als Dritter?«, schlage ich vor und habe keinen blassen Schimmer, wie ich dazu gekommen bin, doch ich bin mir meiner Auswahl ziemlich sicher.

»Lucy zwei, Buddha drei«, murmelt er und schreibt es hastig auf. »Und wie viel möchtest du darauf setzen? Die Mindestwette liegt bei zwei Dollar, aber du kannst auf jeden Fall höher gehen.«

»Zwei ist okay«, erwidere ich. Plötzlich verfliegt meine Zuversicht, und ich habe keine Lust, aus einer Laune heraus mein gesamtes Geld auf den Kopf zu hauen.

»Sicher?« Er sieht enttäuscht aus.

Ich nicke.

»Na ja, ich denke, du hast da ganz gut gewählt, also setze ich fünf. Nein, sagen wir zehn.«

»Setz keine zehn Dollar.« Nervös presse ich die Lippen zusammen. »Ich meine, ich hab sie einfach so ausgesucht, ich weiß nicht mal, wieso.«

»Sieht aus, als würden wir das gleich herausfinden«, meint er und steht auf, während ich nach meiner Brieftasche greife. »Du kannst es mir zurückgeben, wenn du deinen Gewinn abholst. Ich gebe unsere Wetten ab. Wenn der Kellner kommt, bestell, worauf du Lust hast.«

»Was soll ich dir bestellen?«, rufe ich ihm nach, doch er bewegt sich so schnell, dass er mich gar nicht hört.

Als er zurückkehrt, sind die Pferde alle in den Startboxen, und als die Pistole ertönt, schießen sie heraus. Zuerst sehen sie aus wie glänzende dunkle Schatten. Als sie um die Biegung kommen und auf die Zielgerade zupreschen, springe ich auf und sehe, wie meine drei Favoriten sich in Position zu bringen suchen, und dann hüpfe und schreie ich vor Freude, als sie alle in vollendeter »Eins-zwei-drei«-Reihen-folge über die Ziellinie galoppieren.

»O mein Gott, wir haben gewonnen! Wir haben gewonnen!«, stoße ich lächelnd hervor, während Damen sich zu mir beugt, um mich zu küssen. »Ist das immer so aufregend?« Ich blicke auf die Bahn hinunter und sehe zu, wie Spanish Fly in den Siegerkreis trabt und mit Blumen behängt und für seinen Fototermin zurechtgemacht wird.

»So ziemlich«, erwidert Damen. »Obwohl, der erste große Gewinn, das ist nicht zu toppen, das ist immer am tollsten.«

»Na, ich weiß ja nicht, wie groß er sein wird«, bemerke ich und wünsche mir, ich würde ein bisschen mehr auf meine Fähigkeiten vertrauen, zumindest genug, um den Einsatz zu erhöhen.

Er legt die Stirn in Falten. »Na ja, du hast nur zwei gesetzt, also fürchte ich, du hast so um die acht gewonnen.«

»Acht Dollar?« Ich blinzele und bin schwer enttäuscht.

»Achthundert.« Er lacht. »Oder vielmehr achthundertachtzig Dollar und sechzig Cent, um genau zu sein. Du hast eine Dreierwette gewonnen, das heißt, Sieger, Zweiter und Dritter in genau der richtigen Reihenfolge.«

»Und das alles mit nur zwei Dollar?«, stoße ich hervor und weiß plötzlich, warum er hier einen Stammplatz hat.

Er nickt.

»Und was ist mit dir? Was hast du gewonnen?«, erkundige ich mich. »Hast du auf dieselben Pferde gesetzt wie ich?«

Er lächelt. »Na ja, wie das Leben so spielt, habe ich verloren. Und zwar ordentlich. Ich bin ein bisschen gierig geworden und habe eine Viererwette gesetzt, das heißt, ich habe noch ein Pferd dazugenommen, das es nicht geschafft hat. Aber keine Angst, ich habe vor, das beim nächsten Rennen wieder reinzuholen.«

Und das tat er auch, und wie. Denn als wir nach dem achten und letzten Rennen zum Wettschalter gingen, bekam ich einen Gesamtgewinn von 1643 Dollar und 80 Cent ausgehändigt, während Damen erheblich mehr einstrich, weil er die »Super High Five« gewonnen hatte. Das heißt, er hatte alle fünf ersten Pferde in genau der Reihenfolge gesetzt, in der sie durchs Ziel gegangen waren. Und da er der Einzige war, dem das in den letzten paar Tagen geglückt war, gewann er 536 000 Dollar und 41 Cent - alles mit einer Zehn-Dollar-Wette.

»Also, was hältst du vom Pferderennen?«, erkundigt er sich, den Arm in den meinen gehakt, während er mich hinausführt.

»Na ja, jetzt verstehe ich, warum du nicht besonders auf die Schule abfährst. Die kann da wohl nicht mithalten, oder?« Ich lache, ich bin noch immer völlig high vom Gewinnen und denke, dass ich endlich eine profitable Möglichkeit gefunden habe, meiner hellseherischen Gabe freien Lauf zu lassen.

»Komm, ich möchte dir was kaufen, um meinen Gewinn zu feiern«, sagt er und geht mit mir zur Geschenkboutique.

»Nein, das brauchst du doch nicht -«, setze ich an.

Doch er drückt seine Lippen an mein Ohr und sagt: »Ich bestehe darauf. Außerdem, ich glaube, ich kann's mir leisten. Aber nur unter einer Bedingung.«

Ich sehe ihn an.

»Auf keinen Fall ein Kapuzenpulli oder ein Sweatshirt.« Er lacht. »Bei allem anderen brauchst du es nur zu sagen.«

Nachdem wir herumgealbert und er auf einer Jockeymütze, einem Modellpferdchen und einem riesigen bronzenen Hufeisen bestanden hat, das ich mir in meinem Zimmer an die Wand hängen soll, einigen wir uns stattdessen auf ein silbernes Armband, das wie ein Trensengebiss geformt ist. Allerdings erst, nachdem ich mich vergewissert hatte, dass die Kristallstückchen darauf wirklich nur aus Kristall waren und keine Diamanten, denn das wäre zu viel, ganz gleich, wie viel Geld er gewonnen hat.

»So wirst du diesen Tag nie vergessen, egal, was passiert«, sagt er, als er den Verschluss um mein Handgelenk einschnappen lässt, während wir darauf warten, dass der Parkplatzwächter uns den Wagen bringt.

»Wie könnte ich das jemals vergessen?«, frage ich und betrachte erst mein Handgelenk und dann ihn.

Er zuckt nur die Achseln, während er neben mir einsteigt, und in seinen Augen liegt etwas so Trauriges, so Verlassenes, dass das hoffentlich das Einzige ist, was ich vergessen werde.

Unglücklicherweise scheint die Heimfahrt noch schneller vorbei zu sein als die zur Rennbahn, und als er in unsere Auffahrt einbiegt, merke ich, wie sehr es mir widerstrebt, diesen Tag enden zu sehen.

»Schau mal«, sagt er und zeigt auf die Uhr auf dem Armaturenbrett. »Lange vor Mitternacht, genau wie ich es versprochen habe.« Und als er sich zu mir beugt, um mich zu küssen, erwidere ich seinen Kuss mit solchem Enthusiasmus, dass ich ihn praktisch auf meinen Sitz zerre.

»Kann ich noch mit reinkommen?«, flüstert er und führt mich mit seinen Lippen in Versuchung, die an meinem Ohr vorbeiwandern, meinen Hals hinunter und mein Schlüsselbein entlang.

Und ich verblüffe mich selbst, indem ich ihn wegschiebe und den Kopf schüttele. Nicht nur, weil Sabine dort drin ist und ich noch Hausaufgaben machen muss, sondern weil ich endlich Rückgrat zeigen und aufhören muss, ihm immer so verflixt leicht in allem nachzugeben.

»Wir sehen uns in der Schule«, sage ich und steige aus, ehe er dafür sorgen kann, dass ich es mir anders überlege. »Erinnerst du dich noch an die Bay View Highschool? Die, auf der du mal warst?«

Er wendet den Blick ab und seufzt.

 

»Erzähl mir bloß nicht, du willst schwänzen - schon wieder?«

»Schule ist so grässlich langweilig. Ich weiß echt nicht, wie du das machst.«

»Du weißt nicht, wie ich das mache?« Kopfschüttelnd blicke ich zum Haus hinüber und sehe, wie Sabine zwischen den Jalousien hindurchspäht und dann zurücktritt. Dann wende ich mich wieder an Damen. »Na ja, wahrscheinlich genauso, wie du es früher gemacht hat. Du weißt schon, man steht auf, zieht sich an und geht einfach hin. Und manchmal, wenn man aufpasst, lernt man da sogar das eine oder andere.« Doch in derselben Sekunde, in der die Worte aus meinem Mund kommen, weiß ich, dass das alles gelogen ist. Denn die Wahrheit ist, ich habe in dem ganzen Jahr verdammt noch mal gar nichts gelernt. Ich meine, es ist echt schwer, etwas zu lernen, wenn man stattdessen irgendwie alles weiß. Allerdings sage ich ihm das nicht.

»Es muss doch eine bessere Methode geben«, stöhnt er. Seine Augen sind weit aufgerissen, blicken flehend in meine.

»Also, nur fürs Protokoll, Schwänzen und Hinschmeißen? Das ist keine bessere Methode. Nicht, wenn du aufs College willst und etwas aus deinem Leben machen möchtest.« Noch mehr Lügen. Denn noch ein paar Tage wie dieser auf der Rennbahn, und man könnte sehr gut davon leben. Besser als sehr gut.

Doch er lacht nur. »Na gut. Wir machen's auf deine Art. Fürs Erste. Bis morgen, Ever.«

Kaum bin ich durch die Tür, da ist er schon davongefahren.